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Das war schon immer so!? – Teil 1: Grundlagen

Das war schon immer so!? – Teil 1: Grundlagen published on 6 Kommentare zu Das war schon immer so!? – Teil 1: Grundlagen

Wer sich mit Geschlechterrollen auseinandersetzt, stößt schnell auf biologistische Erklärungsmuster dafür, warum sich diese so entwickelt haben: Historische oder archäologische „Fakten“ werden nicht nur gerne herangezogen, um zu beweisen, dass die Geschlechterrollen schon immer genauso verteilt waren, wie wir sie jetzt kennen – sondern auch um zu verschleiern, dass bestimmte Kulturtechniken von beiden Geschlechtern erlernt und ausgeübt werden könnten. Somit erscheinen sogenannte „männliche“ und „weibliche“ Fähigkeiten als naturgegeben. Hier wird also von einer Vererbung von Kulturtechniken ausgegangen anstatt von menschengemachten Ideen und Diskursen über Geschlechterrollen. Es wird zum Beispiel gerne behauptet, dass Männer einen besseren Orientierungssinn haben, weil sie in der Steinzeit Großwild gejagt hätten, dass Frauen gerne einkaufen, weil sie in der Steinzeit Nahrung gesammelt hätten oder dass sie so viel reden, weil sie den ganzen Tag in der Höhle saßen und nichts zu tun gehabt hätten (außer Haushalt und Kindern…).

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Ich möchte in dieser Archäologieserie zeigen, dass das Bild wesentlich differenzierter ist und dass pauschale Aussagen über Geschlecht und Geschlechterrollen nicht haltbar sind. In diesem einleitenden Artikel geht es um die grundlegende Frage der Perspektive, weitere Beiträge werden in unregelmäßigen Abständen folgen.

Geschichtliche Hintergründe, Interpretationen und Vorannahmen

Die prähistorische Archäologie etablierte sich als akademische Disziplin in der zweiten Hälfte des 19. Jh., also zu einer Zeit, in der nur zwei sich diametral gegenüberstehende Geschlechter akzeptiert wurden, die gesellschaftlich getrennt und in ihren Rollen stark festgelegt waren. Zudem bestanden konkrete Zuschreibungen zu den Geschlechtern bzw. zu „männlichen“ und „weiblichen“ Eigenschaften. Die Einteilung von Grabfunden erfolgte primär über die Kategorien „männlich“ und „weiblich“ und es entstand das Modell, dass in der prähistorischen Archäologie großteils bis heute verwendet wird. Es ist wichtig, archäologische Interpretationen vor diesem Hintergrund zu sehen, genauso wie es generell wichtig ist, wissenschaftliche Erkenntnisse im Kontext ihrer Zeit zu sehen. Da wir alle von Zeitgeist und Gesellschaft geprägt sind, gibt es auch in der Wissenschaft keine wirkliche Objektivität. Wir finden am ehesten, was wir suchen und wir erkennen am einfachsten, was wir bereits kennen. So ist es kein Wunder, dass in der prähistorischen Archäologie (implizit) von ihrem Anfang im 19. Jh. an bestimmte Rollenverteilungen und die (bürgerliche) Kleinfamilie als Standard vorausgesetzt wurden, die im erstarkenden Bürgertum an Popularität gewann. Unser Weltbild beeinflusst unsere Interpretationen. Das geht uns allen so, wird immer so sein und ist auch nicht per se ein Problem, solange wir uns dessen bewusst sind und einige Dinge beachten:

1. Als Lesende*r müssen wir uns (wie bereits gesagt) klar machen, dass wir Interpretationen immer im gesellschaftlichen und historischen Kontext sehen müssen und dass sie immer nur so weit gehen, wie die*der Interpretierende zu denken fähig ist. Auch die Frage, welchen Zweck die jeweilige Literatur erfüllen soll, ist nicht zu unterschätzen. Als drastischstes Beispiel wäre hier archäologische bzw. historische Fachliteratur aus der NS-Zeit zu nennen, deren Inhalt auf propagandistische Zwecke zugeschnitten war. Unter anderem wollten die Archäolog*innen eine durchgängige Ahnenlinie zwischen den German*innen und den Deutschen nachweisen, was nicht zuletzt zur Legitimation von Gebietsansprüchen genutzt werden sollte.

Wir müssen außerdem bedenken, dass Forschungsergebnisse oft temporär sind und nach einigen Jahrzehnten in Frage gestellt oder sogar völlig verworfen werden. Ein gutes Beispiel dafür ist die Moorleiche, die nach ihrem Auffinden in den 1950er Jahren als „Mädchen von Windeby“ bezeichnet wurde. Aufgrund einer Geste (der sogenannten „Feigenhand“) wurde sie vom zuständigen Archäologen als Ehebrecherin interpretiert. Bei DNA-Analysen 2006 stellte sich heraus, dass es sich mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit um ein männliches Individuum handelt und die „Feigenhand“ erwies sich als nachträgliche Manipulation.

2. Als Interpretierende*r / Schreibende*r ist es wichtig, unsere Ausgangsposition für uns zu formulieren und für andere offen zu legen. Denn ein großes Problem ist, dass bestimmte Vorannahmen nicht kommuniziert oder diskutiert, sondern stillschweigend vorausgesetzt werden. Dazu gehört nicht nur die bereits genannte Voraussetzung der Kleinfamilie in archäologischen Kontexten, sondern zum Beispiel auch die feststehende Annahme, dass Waffen männliche Attribute sind und in Form von Beigaben als Indikatoren für Männergräber herangezogen werden können. (Mehr dazu im nächsten Artikel dieser Serie.)

pfeile-schmal2 Der zweite Punkt betrifft mich als Schreibende natürlich ebenso wie alle anderen. Meine Ausgangsposition ist aktuell folgende: Ich bin prähistorische Archäologin und habe einen genderwissenschaftlichen Schwerpunkt. Ich gehe davon aus, dass archäologisch nachweisbare Gesellschaften komplex und divers sind (ebenso wie unsere Gesellschaft), was dazu führt, dass mir Ausnahmen in archäologischen Befunden viel eher und viel positiver auffallen als traditionell geprägten Forscher*innen. Ebenso kann ich mir nicht vorstellen, dass immer und zu jeder Zeit ausnahmslos gleiche Geschlechterrollen vorherrschten – und daher versuche ich z.B. nicht, eine Frauenbestattung mit Schwert auf Biegen und Brechen zu einer Männerbestattung umzudeuten oder den möglichen Gebrauch des Schwertes wegzuargumentieren (auch dazu später mehr). Ich nehme zunächst keine Aufgabenteilung nach Geschlecht an. Außerdem suche ich explizit nach Ausnahmen von dem, was als Nachweis für traditionelle Rollenverteilung interpretiert werden kann und somit nach Belegen für die von mir angenommene Diversität. Das färbt meine Untersuchungen auf bestimmte Weise ein – auf andere Weise als Untersuchungen von traditionell geprägten Archäolog*innen. Ich versuche nicht, Ausnahmen wegzuargumentieren oder aus statistischen Gründen unter den Tisch fallen zu lassen – denn es geht nicht um eine Statistik, sondern um (vergangene) Lebensrealitäten und darum, ein möglichst umfassendes Bild der jeweiligen Gesellschaft zu rekonstruieren.

Links und weiterführende Literatur

  • Karlisch, Sigrun M./ Kästner, Sibylle/ Mertens, Eva-Maria (Hrsg.): Vom Knochenmann zur Menschenfrau. Feministische Theorie und archäologische Praxis . Münster 1997
  • Fries, Jana Esther / Rambuschek, Ulrike / Schulte-Dornberg, Gisela (Hrsg.): Science oder Fiction? Geschlechterrollen in archäologischen Lebensbildern. Münster 2007
  • Bernbeck, Reinhard: Theorien in der Archäologie . Tübingen und Basel 1997
  • Geringer, Sandra / Halle, Uta (Hrsg.): Graben für Germanien. Archäologie unterm Hakenkreuz. Stuttgart 2013
  • Die Moorleiche von Windeby auf Spiegel Online und in der Wikipedia
  • FemArc – Netzwerk archäologisch arbeitender Frauen

6 Kommentare

Sehr spannender Artikel, der mir wirklich aus der Seele spricht. Ich habe zwar nur Geschichte studiert, aber schon als Kind war ich von der Archäologie fasziniert und auch jetzt noch lese ich gerne zu dem Thema, besuche Museen oder sehe mir beispielsweise Dokus an. Leider sind gut gemachte Dokumentationen selten und statt entspannt Wissenswertes aufzusaugen, sitze ich dann meist mit aufgestelltem Nackenhaar und sanft wütend vor mich hinschäumend da, weil mir seltsame Annahmen (oft noch als Tatsachen getarnt) und krude Biologismen erzählt werden. Bin also sehr neugierig auf die Folgeartikel und die Hintergrundinfos.

[…] Im ersten Teil dieser Serie zu Archäologie und Geschlecht habe ich ein paar grundlegende Gedanken festgehalten, mich zu Objektivität und Interpretation geäußert und meinen persönlichen Standpunkt dargelegt. Wer das (noch einmal) nachlesen möchte, findet hier den Artikel. […]

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